„Aus der Geschichte lernen heißt, Wert und Würde aller Menschen voll anzuerkennen“
Zahlreiche Ehrengäste, darunter Angehörige und Nachkommen von Opfern, diplomatische Vertreterinnen und Vertreter – darunter nicht weniger als sieben Botschafterinnen und Botschafter – fanden sich am Sonntag, 1. Oktober 2023 im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim ein und gedachten der rund 30.000 Opfer der NS-Euthanasie.
Nach der Begrüßung durch die Obfrau des Vereins Schloss Hartheim, Prof. Konsulentin Dr. Brigitte Kepplinger, sprach Landeshauptmann Mag. Thomas Stelzer Worte des Gedenkens. „Aus unserer Geschichte lernen heißt für uns auch, Wert und Würde aller Menschen voll anzuerkennen, ihnen Brücken in die Gesellschaft hereinzubauen und so Teilhabe zu ermöglichen“, betonte der Landeshauptmann.
„Wir haben als Land Oberösterreich immer wieder deutlich gemacht, dass Menschen mit Beeinträchtigungen ihren selbstverständlichen Platz in der Mitte der Gesellschaft haben. Als heute Lebende eint uns das Bewusstsein, dass wir eine besondere Wachsamkeit gegenüber jeder Form der Missachtung menschlicher Würde haben müssen. Eine solche Missachtung darf nur den entschiedenen Widerspruch aller Landsleute und ein konsequentes Einschreiten des Rechtsstaates nach sich ziehen“, unterstrich Landeshauptmann Stelzer: „Im Lern- und Gedenkort Hartheim stellen wir uns nicht nur unserer Vergangenheit, sondern schaffen auch eine Verbindung in die Gegenwart und Zukunft. Dieser Ort ist ein Symbol dafür, dass Ausgrenzung, Antisemitismus, Rassismus oder Extremismus in Oberösterreich keinen Platz haben.“
Die diesjährige Rede zur Gedenkfeier hielt Prof. Dr. Volker Schönwiese. Schönwiese ist seit den 1970er Jahren Aktivist der Bewegung Selbstbestimmt Leben. Er war von 1983 bis 2013 im Aufbau und Betrieb des Lehr- und Forschungsbereichs Inklusive Pädagogik und Disability Studies an der Universität Innsbruck tätig. Volker Schönwiese ist Verfasser zahlreicher Texte und Dokumente zur österreichischen Behindertenbewegung und -politik, die in der digitalen Bibliothek bidok.at abrufbar sind.
Prof. Dr. Schönwiese stellt in seiner Rede die Frage, „wie Gedenkkultur über das versichernde ‚nie wieder‘ hinaus aktiv bedeutsam werden kann, wie behinderter Menschen als Opfer gedacht wird“ und was daraus für die heutige Situation von Menschen mit Behinderungen abgeleitet werden könne. „Trauer und Gedenken kann sich in Aufarbeitung wandeln, die das lähmende Entsetzen in aktive Auseinandersetzung auch für heute verwandelt“, so Schönwiese.
Zentrale Themen seiner Rede sind die Selbstorganisation von Menschen mit Behinderungen, die bereits in der Zwischenkriegszeit begann und der Widerstand von Menschen mit Behinderungen gegen den Nationalsozialismus. Als Beispiel erwähnt Prof. Dr. Schönwiese den Pionier der österreichischen „Krüppelbewegung“ Siegfried Braun, der in der NS-Zeit nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Schon in der Ersten Republik stellten er und die „Krüppelarbeitsgemeinschaft“ Forderungen nach Selbstbestimmung. Leitsätze waren „Arbeit statt Siechenhaus“ und „Arbeit statt Mitleid“.
Nicht wenige der Aktivisten kamen in der NS-Zeit ums Leben. Nach 1945 dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis die Verbrechen der NS-Euthanasie aufgearbeitet wurden. Viele Initiativen und Bemühungen zur Auseinandersetzung mit den Morden kamen, so Prof. Schönwiese, wiederum aus der Behindertenbewegung der 1970er und 1980er Jahre.
Prof. Dr. Volker Schönwiese wies in seiner Rede auch darauf hin, dass die Situation von Menschen mit Behinderungen noch immer weiterer Verbesserungen bedarf. „Die Reformgesetze der 1990er Jahre in Österreich waren wichtige Schritte in Richtung Anerkennung und Inklusion. Die existierende Ausgrenzung und Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen beendeten sie aber nicht.“ Bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention, die vor 15 Jahren in Österreich in Kraft trat, gebe es noch einiges zu tun. Prof. Dr. Schönwiese bemerkt dazu, dass „Deinstitutionalisierung und aktive Förderung von „Selbstbestimmung“, die zur Herstellung der Bedingungen menschlicher Entfaltung auch für Menschen mit Behinderungen nötig sind“, auch in Österreich vorangetrieben werden sollten.
Im Anschluss an die Gedenkrede wurden auf dem Friedhof der Opfer Gebete von Vertretern der katholischen und der evangelischen Kirche, sowie der Israelitischen Kultusgemeinde gesprochen und Kränze von diplomatischen Vertretern und Organisationen niedergelegt. Die Gedenkfeier fand am Friedhofsgelände auf der Ostseite des Schlosses statt. Hier wurden Anfang der 2000er Jahre in mehreren Gruben menschliche Überreste in Form von Asche und Knochenstücken gefunden und in einer neu geschaffenen Grabanlage beigesetzt.
Jenen Menschen, die nicht an der Gedenkfeier teilnehmen konnten, steht ab Montag eine Video-Aufzeichnung im Youtube-Kanal des Lern- und Gedenkorts zur Verfügung.
Zum Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim
Im Schloss Hartheim in Alkoven war von 1940 bis 1944 eine NS-Euthanasieanstalt untergebracht, in der nahezu 30.000 Menschen ermordet wurden. Sie waren teils Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten sowie Betreuungseinrichtungen, teils arbeitsunfähige KZ-Häftlinge aus den Lagern Mauthausen, Gusen, Dachau und Ravensbrück sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
1995 wurde der Verein Schloss Hartheim gegründet. Ziel war es, einen angemessenen Ort der Erinnerung, des Gedenkens und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu schaffen. Im Jahr 2003 wurde aus Mitteln des Landes OÖ und des Bundes mit der Gedenkstätte und der Ausstellung „Wert des Lebens“ der Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim errichtet. 2021 öffnete die neue Dauerausstellung – finanziert aus Mitteln des Landes OÖ – ihre Türen.